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1945 davor/danach / CD / 2024

Wir harmlos sind Schlager?

Im Buch „Wolfszeit“ schrieb der Literaturwissenschaftler und Journalist Harald Jähner, dass Anfang der 1950er Jahre die Kapitulationsgesellschaft in die Spaßgesellschaft übergegangen sei. In Letzterer leben wir ja bis heute. Spaß und gute Laune sind Verheißungen unserer Konsumwelt. Schlagermusik ist ein Faktor, der diese Wünsche und Sehnsüchte verkörpert. Welcher Hit könnte das besser illustrieren als „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, den Lotar Olias 1952 für Fernsehfastnachtssendungen schrieb; er wurde unter anderem von Freddy Quinn, Heino, James Last und Roy Black interpretiert. – Schon wieder begegnet uns dabei eine ambivalente Biografie. Seit 1932 bereits war Lotar Olias NSDAP-Mitglied. Wie Michael Jary und Bruno Balz komponierte er Durchhaltelieder und sogar Songs mit konkret nationalsozialistischem Inhalt. Doch als sei das alles nicht gewesen, setzte er nach dem Krieg seine Karriere als Schlagerkomponist höchst erfolgreich fort.

„Die Wirkung von Schlagern wird man umreißen dürfen als die von Schemata der Identifikation“, notierte der Philosoph Theodor W. Adorno. Identifikationsobjekte sind dabei zum einen die Stars und ihre glänzenden Bühnenauftritte. Man denke an Zarah Leander und Hildegard Knef, die nach dem Krieg Leanders Lieder sang. Heute werden unter anderen Roland Kaiser, Andrea Berg oder Helene Fischer von den Schlagerfans angehimmelt. – Mehr noch als Anker der Identifikation dienen die Texte der Schlager, die sich meist auf dem unverfänglichen Terrain kleinbürgerlicher Wünsche und Sehnsüchte bewegen. Lässt man den historischen Zusammenhang außer Acht, kann „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ ohne weiteres als harmloses Liebeslied gehört werden. Auch folgende Zeilen scheinen lediglich eine Naturidylle zu beschreiben: „Und der Bach, der hört das Singen, wild und polternd muss er springen. Es geht eine helle Flöte, der Frühling ist über dem Land.“ Sie stammen aus dem Lied „Es geht eine helle Flöte“, das 1938 von Hans Baumann für die Hitler-Jugend komponiert wurde. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs kann man das durchaus als Anfeuerung einer politischen Bewegung oder sogar eines Krieges lesen.

Hans Baumann hat an seiner Begeisterung für die nationalsozialistische Ideologie keinen Zweifel gelassen. 1933 trat er in die NSDAP ein, war SS-Anwärter und komponierte viel für die Hitler-Jugend und den Bund Deutscher Mädel, darunter eben das Lied „Es geht eine helle Flöte“. Ein anderes aus seiner Feder – „Es zittern die morschen Knochen“ – gilt heute in der Bundesrepublik als „Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“; als solches ist seine Verwendung laut § 86a des StGB strafbar. – Kaum scheint es möglich, dass das in Vergessenheit geraten kann. Und doch taucht Baumanns Hitler-Jugend-Lied, als sei nichts gewesen, 1969 in dem vom Musiker Rolf Zuckowski publizierten Kindervolksliederbuch „Liederbüchermaus“ auf. Auch Baumann gelang es übrigens, bis zu seinem Tod im Jahr 1988 als bekannter und beliebter Kinder- und Sachbuchautor unbehelligt zu agieren.

Zurück zu den Texten der Vor- und Nachkriegsschlager. Sie versprechen eine heile Welt, Auswege aus traurigen Schicksalen und schließlich, dass letztendlich alles gut werden wird. Zugleich transportieren sie durch subtile Wortsetzungen Leitbilder und Zielrichtungen politischer Ideologie. Die Durchhaltelieder im Nationalsozialismus sind ein prägnantes Beispiel. In der Nachkriegszeit dann waren Wohlstand und Besitz die Insignien eines guten und vor allem richtigen Lebens. Es sind die Verheißungen der kapitalistischen Konsum- und Warengesellschaft, die den Subtext zu Paul Kuhns 1956 komponierten Schlager „Auf meinem Konto steht das Komma zu weit links“ bilden. Mehr und mehr Geld für Konsumzwecke zu besitzen war damals die Zielvorgabe des sogenannten Wirtschaftswunders. – Das heutige Schlagergeschehen zielt auf Ablenkung, Entspannung und Erholung vom Alltag ab und blendet die möglicherweise gar nicht so schöne Realität aus. Kaum etwas demonstriert das besser als der Kult um den Eurovision Song Contest. Waren es bis in die 1960er Jahre Filme, in deren Rahmen Schlager publikumswirksam präsentiert wurden, so ist es jetzt, neben zahlreichen Fernseh-Schlagersendungen, der Contest, der von breiteren Teilen der Gesellschaft wahrgenommen wird. Wenn es sich anbietet, dient dieses Medienereignis auch der Politisierung, wenngleich das heute viel weniger Bedeutung hat als zu Zarah Leanders Zeiten. Schlager sind also kaum noch dazu in der Lage, eine derartige Breitenwirkung wie im Nationalsozialismus zu entfalten. Heute haben das soziale Medien übernommen.

Dekomposition oder wie kann man das heute singen

Es gehöre zu den großen Aufgaben von Kunst, insbesondere von Musik, die Vergessens-Sucht aufzuhalten, konstatierte der 1937 geborene Komponist Rolf Riehm. Ein solches Vergessen offenbart sich uns, wenn Schlager aus der Vorkriegszeit wie in den oben erwähnten Fällen ungeachtet ihrer politischen Verstrickungen gesungen werden. Riehm fordert, dass man sich als Musiker gegen das Vergessen stemmen und Stolperbalken legen müsse. Genau das haben Oliver Augst und Marcel Daemgen mit ihren Interpretationen im Sinn. Konkrete persönliche Erfahrungen der beiden in der ersten Hälfte der 1960er Jahre geborenen Künstler fließen dabei mit ein. „Die Arbeit an den Liedern basiert auf einem Grund-Misstrauen meiner deutschen Eltern/Großeltern-Generation gegenüber“, sagt Oliver Augst und beklagt, dass man unter dem Deckmantel von Biederbürgerlichkeit und Verständnisheischen
versucht habe, das Geschehene in Legenden umzuschreiben. Diese Legenden möchten Oliver Augst und Marcel Daemgen sichtbar machen und hinterfragen. Ihr Verfahren könnte man Dekomposition nennen.

Die vielfältigen englischen Bedeutungen des Begriffs „decompose“ fassen anschaulich, was die beiden Musiker damit meinen. Sie zerlegen und zergliedern die Struktur der Schlager. Sie zerspalten das Musikalische, nicht selten bis hin zur Unkenntlichkeit. Sie trennen Schicht für Schicht die Bedeutungsebenen, sodass diese ihr wahres Gesicht nicht mehr verhüllen können. Und sie zersetzen den fragwürdigen Inhalt. Am Ende kommt etwas Neues heraus, etwas, das vielleicht sogar ein ganz anderes Lied ist. Ein Beispiel: „Nach den neuesten Meldungen sind die Russen 30 Kilometer vorgestoßen. In den gestrigen Kämpfen fielen 3000 Deutsche“, heißt es in einer Sender „Freies Deutschland“-Produktion, die im Zweiten Weltkrieg über Funkpiraten ins deutsche Rundfunkprogramm eingeschleust wurde. Oliver Augst und Marcel Daemgen haben dieses Sample in ihre Fassung von „Davon geht die Welt nicht unter“ eingebaut, und zwar direkt, bevor Oliver Augst die Titelzeile singt. Dank des akustischen objet trouvé prallt die Kriegsrealität unvermittelt auf das Narrativ des Regimes, das sich im Liedtext äußert. Fast überdeutlich enthüllt sich so das Propagandistische dieses Schlagers.

So plakativ machen das Augst und Daemgen jedoch nur an ganz wenigen Stellen ihrer Interpretationen. Meistens sezieren sie feinfühlig und mit scharfem Skalpell die unterschiedlichen Ebenen von Text und Musik. Sie dringen in die Strukturen ein und schöpfen Neues aus ihnen, wie beim Schlager „Ein Lied geht um die Welt“, 1933 von Hans May auf einen Text von Hans Neubach komponiert. Die Musiker skelettierten das Lied, bis nur die Melodie übrigblieb, und auch sie nicht in ihrer vollen Kraft. Oliver Augst trägt sie nicht schmetternd vor, wie man es aus Interpretation von Tenören wie Fritz Wunderlich kennt. Wenn überhaupt, flackert eine solche Geste nur ganz kurz und nur andeutungsweise auf, quasi als Zitat. Über weite Strecken präsentiert Augst das Melodische als leises, nachdenkliches In-Sich-Hineinsingen, das sich an einigen Stellen sogar bis zu einer Art Sprechgesang reduziert. Durch das Versickern des Schönen der Melodie, ihres Glanzes, öffnet sich der Blick auf das Eigentliche. So entsteht ein völlig neuer Song, auch weil die Klavierbegleitung, gespielt von Sophie Agnel, überhaupt nichts mehr mit der originalen zu tun hat.

Die Pianistin improvisiert zu Oliver Augsts Gesang. Dabei spielt sie nicht auf den Tasten des Instruments, sondern im Innern des Flügels. Dort entfaltet sie durch Anzupfen und Anstreichen der Saiten ein luftiges Klangfeld. Ganz ähnlich wie Oliver Augsts Gesang zielt das nicht auf äußerlichen Glanz. Die leisen und sachten Ton- und Klangereignisse haben etwas Nachdenkliches an sich. Es scheint, als habe sich die Pianistin meditativ ins Klanggeschehen versenkt. Ganz ähnlich gearbeitet, jedoch im Gesang noch weiter vom Original abstrahiert, ist Augsts und Agnels Interpretation des 1951 von Kurt Schwaens geschriebenen Songs „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“. In diesen beiden Liedern ist alles live gespielt. Andere Songs sind mit elektronischen, collageartig gesetzten Techniken und Mitteln teilweise vorproduziert. Darin haben Augst und Daemgen durch frühere Lieder-Produktionen etliche Erfahrungen gesammelt. Wie sie dabei die Bedeutungsebenen der Schlager entlarven, soll ein Blick auf die folgenden Lieder zeigen. Bei der Bearbeitung des HJ-Lieds „Es geht eine helle Flöte“ bleibt die gesangliche Geste der Melodie erhalten. Die Begleitung besteht aus elektronischen Samples; in diesem Fall sind es mehrheitlich Töne und Klänge, in anderen Liedinterpretationen ist das sehr viel geräuschiger gestaltet. Dann plötzlich hört man im Hintergrund marschierende Soldaten. Mit diesem Sample lassen Augst und Daemgen das Lied auch enden, sodass der propagandistische Subtext des Liedes direkt an die Oberfläche tritt. Bei „Auf meinem Konto steht das Komma zu weit links“ hingegen haben die beiden Musiker kaum etwas verändert. Aber plötzlich bricht die Musik in sich zusammen und mit ihr der schöne Schein der Konsumwelt. Gänzlich anders verhält es sich bei der Interpretation von „Auferstanden aus Ruinen“, das hier, von DDR-Pomp und -Militarismus befreit, wie eben Hanns Eislers kleines Klavierlied klingt, das dieser seinerzeit als vereinfachte Utopie für zunächst noch alle Deutschen komponiert hat.

Hanno Ehrler

 

Titel
Booklettext (Frank Kämpfer)
Booklettext (ins Englische von Michael Turnbull)
Wie harmlos sind Schlager? (Hanno Ehrler)
How Innocuous Is Schlager? (ins Englische von Michael Turnbull)
Foto







 

 

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